Die alltägliche Schonfärberei in der bunten Begriffswelt der Politik
Die alltägliche Schönfärberei in der bunten Begriffswelt der Politik
Von Karen Horn
10. Oktober 2003 "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt", schrieb der Philosoph Ludwig Wittgenstein 1933 im "Tractatus logico-philosophicus". Die deutschen Politiker haben sich das zu Herzen genommen. Mit aller Kraft sind sie dabei, die Grenzen ihres Betätigungsfeldes zu verschieben - vermittels der Sprache. Um die richtigen wirtschaftspolitischen Konzepte wird nicht nur im Schlagabtausch zwischen den Parteien gerungen, sondern auch auf dem verschlungenen Weg über die frühzeitige Besetzung und nachhaltige Umdeutung von Begriffen.
Ist es schlicht professionelles Marketing oder nicht doch schon absichtliche Volksverdummung, wenn die längerfristig geplante Ausweitung des ökonomisch längst nicht mehr tragbaren Umlageverfahrens in der Krankenversicherung, nichts anderes als ein Löcherstopfen ohne Aussicht auf systematische Besserung, in die einlullende Worthülse der "Bürgerversicherung" gewickelt und von den arg böse klingenden "Kopfprämien" abgegrenzt wird? Warum nicht gleich von einem "Umlagefinanzierungsausweitungsvorhaben" sprechen, in Analogie zum "Steuervergünstigungsabbaugesetz"? Dies wiederum ist nicht nur ein unsägliches Wortungetüm, sondern der nächste Fall von sprachlicher Manipulation. Wer sich wenigstens halbwegs ökonomisch aufgeklärt gibt, kann wenig einwenden gegen den Abbau von Privilegien, welche die marktwirtschaftliche Koordination verzerren. Doch daß danach auch noch eine Welle von neuen fiskalischen Zugriffsideen auf die Bürger niedergehen würde, von der Wiedereinführung der Vermögensteuer bis hin zur Neuschöpfung einer Mindeststeuer für Unternehmen und zu einer Ausbildungsabgabe, davon lenkt der Begriff in politisch opportuner Weise ab.
Jeder Kranke träumt von reformierter Gesundheit
Weniger heimtückisch, bloß dümmlich sind Versuche, wirtschaftspolitische Flickschustereien schönfärberisch mit dem Suffix "Reform" zu etwas zu erheben, was sie nicht sind - und im Nebenzug auch noch krasse Nonsensworte zu produzieren wie "Gesundheitsreform". Alle Kranken träumen davon, ihre Gesundheit reformiert zu sehen. Mit Rationalisierungsprogrammen für das Gesundheitswesen wie jenem, das kürzlich durch den Bundestag gepaukt worden ist, dürfte ihnen kaum geholfen sein.
Sprache ist geduldig und läßt sich instrumentalisieren. Das weiß auch die IG Metall, wenn sie in Ostdeutschland wochenlang - allerdings erfolglos - für die 35-Stunden-Woche kämpft und den angemessenen Zusatz "ohne entsprechende Lohnkürzung" unter den Tisch fallen läßt. Mehr Glück hat da Peter Hartz, der beste Vermarkter und Slogan-Schöpfer unter den Beratern auf der politischen Bühne: "Job-Floater", "Ich-AG" und "Job-Center" statt Arbeitsämter gehören zu seinen Kreationen. In dieser neuen bunten Begriffswelt weiß - möglicherweise zum Glück - kaum noch jemand, worum es konkret geht.
Harmonisierung = beschönigte Gleichschaltung
Doch verbal für dumm verkauft wird der Bürger schon lange. So dürfte er sich längst daran gewöhnt haben, daß ein offizieller "Sparkurs" durchaus nichts mit Sparen zu tun hat, wo immerhin etwas im Portemonnaie übrigbleiben müßte, sondern bloß mit weniger rasch steigenden Ausgaben. Jene Kunst der schönfärberischen Wortwahl ist auch in Brüssel verbreitet. Wann endlich wird der Terminus der "Harmonisierung", der auch in der Steuerpolitik nur den autoritären Tatbestand der europäischen "Gleichschaltung" in warme Worte kleidet, als unangemessen beschönigend und irreführend aus dem Sprachschatz gestrichen?
Eine andere, aber nicht minder gefährliche Sache sind die Begriffe, die erst im Laufe der Zeit pervertiert worden sind. So ist es längst nicht mehr angemessen, von einem "Günstigkeitsprinzip" nach Paragraph 4 Absatz 3 des Tarifvertragsgesetzes zu sprechen, nach dem Abweichungen vom Tarifvertrag nur zulässig sind, wenn dies für den Arbeitnehmer günstiger ist. Vielmehr handelt es sich mittlerweile um ein "Jobverlust-Prinzip". Denn die allwissenden Arbeitsgerichte haben als "günstig" nur mehr Geld oder mehr bezahlte Freizeit anerkannt, nicht die Erhaltung des Arbeitsplatzes.
Positive Ausnahmen von der politischen Regel der opportunistischen Sprachmanipulation sind selten. Irgendwie hat es das Dosenpfand geschafft, unter der inhaltlich korrekten Titulierung als "Zwangspfand" in der Debatte aufzutauchen. Soweit der Hoffnungsschimmer. Und eine Erkenntnis: Karl Marx irrte - nicht nur in seiner gesellschaftlichen Utopie. Verglichen mit dem real existierenden politischen Prozeß im Jetzt und Heute, blieb er auch allzusehr an der Oberfläche, wenn er in seiner "Kritik der Politischen Ökonomie" den berühmten Satz formulierte: "Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt." Es ist auch die Sprache.
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.10.2003, Nr. 236 / Seite 11 (http://www.faz.net)
Ein weiterer übler Euphemismus ist "Freisetzung von Arbeitskräften", ein makaberer Versuch, Massenarbeitslosigkeit in einem genehmeren Licht erscheinen zu lassen.
Gruss,
Peter