Traurig und Wütend: Stephan Baron über Stillstand in Deutschland
Black Baron: Traurig und wütend
von Stephan Baron
Wirtschaftwoche (01.09.06) - Reisen bildet, heißt es. Und das ist ja auch so, jedenfalls wenn man mit wachen Sinnen die Welt wahrnimmt. Am meisten bildet jedoch die Heimkehr, der frische, durch die Eindrücke und Erfahrungen veränderte Blick aufs eigene Land.
Wer in diesen Tagen nach längerer Abwesenheit nach Deutschland zurückkehrt, hat das Gefühl, er kommt in eine andere Welt. Während global der Fortschritt rast, steht dieses Land wie schon seit vielen Jahren weiter (nahezu) still. Die Sozialpolitiker in allen Parteien eifern unverdrossen um die Lufthoheit über den Stammtischen und neues Opium fürs Volk. Geradeso als wäre unser zentrales Zukunftsproblem ein Mangel an Sozialpolitik.
Das Gegenteil ist richtig: Die Sozialpolitik frisst unsere Zukunft auf. Nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie, weil das Geld, das wir hier ausgeben, für lebensnotwendige Zukunftsinvestitionen (wie Bildung, Forschung, Entwicklung) fehlt. Nein, viel schlimmer noch: Weil der Versorgungsstaat, zu dem Deutschland in Jahrzehnten geworden ist, die Sinne seiner Bürger vernebelt, sie abhängig und schwach gemacht hat.
Die Gefahr, die uns droht, nehmen viele nicht einmal wahr, lassen sich von dem Titel wie „Exportweltmeister“ täuschen. Obwohl an dieser zweifelhaften Meisterschaft die für eine moderne Ökonomie so wichtigen Dienstleistungen (Software, Finanzdienstleistungen, Tourismus et cetera) nicht teilnehmen. Und dabei auch völlig außer Acht bleibt, dass ein großer und rasch wachsender Teil der Exporte vorher importiert wurde.
Viele andere, die die Gefahr sehen, haben sich derweil offenbar in ihr Schicksal ergeben: Für uns, sagen sich die schon etwas Älteren, wird es wohl gerade noch so reichen. Kinder haben wir sowieso keine, nach uns die Sintflut! Viele Junge, die sich mit dem Niedergang nicht abfinden wollen, weil es für sie bestimmt nicht mehr reicht, wandern aus. So wird das Land schwächer und schwächer.
Was wir jetzt erleben, sind die Spätfolgen einer progressiven sozialen Knochenerweichung. Seit 1957, seit der „dynamischen Rente“ Konrad Adenauers, wurden die Deutschen immer mehr von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung ent- und an die Abhängigkeit vom Versorgungsstaat gewöhnt. Das Ergebnis ist ein Land organisierter Verantwortungslosigkeit, ein Land ohne Kinder, ein Land sozialer Untertanen (deren ganzes „Eigentum“ in staatlichen Sozialkassen steckt), ein Land ohne starkes Bürgertum, das „die Wirklichkeit der Freiheit“, wie der Philosoph Hegel Eigentum einmal charakterisierte, kaum kennt.
Es ist ein weithin unglückliches Land und ein Land, in dem viele Menschen in unwürdigen Umständen leben. Denn in dem Maße, in dem der Versorgungsstaat Selbstbestimmung und Selbstverantwortung verschüttet, in dem Maße schwindet auch die grundgesetzlich geschützte Würde des Menschen.
Mit der Würde geht auch das Glück. „Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit“, wusste schon der griechische Staatsmann Perikles, und die moderne Glücksforschung hat ihn darin bestätigt. Auch das Geheimnis der Freiheit kannte Perikles: den Mut. Dieser Mut fehlt Deutschland. Nicht etwa, dass die Deutschen von Natur aus feige wären. Nein, aber über Jahrzehnte haben sie Politiker mit Wahlsiegen belohnt, die ihnen diesen Mut mit gut gemeinter Sozialpolitik, die aber das Ende nicht bedachte, schleichend austrieben.
Das ist der tiefere Grund für die Reformschwäche dieses Landes: Wir wissen nicht mehr, wie wichtig Freiheit für ein glückliches Leben und für die Bewältigung der Zukunft ist – unserer eigenen wie der des Landes.
Das ist es auch, was einem auffällt, wenn man nach Deutschland zurückkehrt. Und einen traurig – und zugleich wütend macht.