Richard Ebert
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Deutschland: Am Rande des Abgrunds

Bundeshaushalt: Am Rande des Abgrunds

Von Manfred Schäfers

(13.11.04) Die deutsche Finanzpolitik ist reich an Versprechen. Der zuständige Minister kündigt viel an - seit Jahren mehr, als er halten kann. Nachdem der Haushaltsausschuß die Vorlage von Hans Eichel so gut wie ohne Korrekturen gebilligt hat, soll auch diesmal wieder alles gut werden: Der Haushalt 2005 sei verfassungsgemäß, da die Neuverschuldung niedriger ausfalle als die Investitionsausgaben, beteuert Eichel.

Obwohl des Ministers Plan scheiterte, durch eine Verlegung des deutschen Nationalfeiertags auf einen Sonntag das Wachstum und damit die Einnahmen des Staates um zwei Milliarden Euro zu erhöhen, verspricht Eichel des weiteren, Deutschland werde im nächsten Jahr die europäische Stabilitätsvorgabe wieder einhalten.

(Quelle und ausführlich weiter lesen: Frankfurter Allgemeine Zeitung, http://www.faz.net)

fluggerät
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Horst Köhler ein "Schwarzseher"?

Köhlers Rede
Nur acht Sätze
Von Frank Schirrmacher

22. Juli 2005 Rufen Sie Google auf. Geben Sie ohne Anführungszeichen als Suchbegriff ein: Unsere Zukunft steht auf dem Spiel. Sie erhalten 760.000 Rückmeldungen.

In fast allen steht die Zukunft der Menschen auf dem Spiel. Dann die der Kinder. Dann die der Wale. Jeder setzt ständig in Phrasen und Denkschriften die Zukunft aufs Spiel. Aber all das, was täglich geschieht, ist etwas anderes, wenn es durch den Bundespräsidenten geschieht. Was ein Bundespräsident anerkennt, existiert. Er müßte in Google immer an Platz eins stehen. Wenn der Bundespräsident meint, die Zukunft steht auf dem Spiel, ist das eine Staatsaktion. Seit seiner Rede wissen wir, daß der Bundespräsident das glaubt.

Ohne Bier und Schnittchen

Feststellung: Es war keine Adlon-Rede. Es gab danach keine Schnittchen und kein Bier. Es war keine jener Luxushotel-Wirtschafts-und Revolutions-Predigten, mit denen jetzt schon sei Jahren eine hörende Öffentlichkeit sich hinter Persönlichkeiten wie Olaf Henkel oder Johannes Rau von Büffets zu Büffet, von Talkshow zu Talkshow zu schleppen pflegt.

Man muß diese Banalität feststellen, um verstehbar zu machen, warum nach der Ansprache Horst Köhlers die gesellschaftspolitisch entscheidenden, womöglich historischen Sätze völlig übergangen wurden. Sie lauten: „Unsere Zukunft und die unserer Kinder steht auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie dagewesenen kritischen Lage. Die bestehende föderale Ordnung ist überholt. Wir haben zuwenig Kinder, und wir werden immer älter.”

Alles Fidele ist verschwunden

Gewiß, auch im Adlon haben wir solche Sätze schon gehört. Und im Steigenberger, Mariott, Hyatt, Radisson auch; also überall dort, wo unsere fidele „Titanic” anlegt und ein Wirtschafts- oder Politikkapitän zur Lage redet. Hier aber waren die Umstände ganz andere. Hier ist, um es anders auszudrücken, alles Fidele, Bordkapelle und Schnittchen inklusive, von der Bildfläche verschwunden.

Es hat eine solche Diagnose an diesem Ort und mit dieser formal zutiefst verdichteten Bedeutsamkeit noch nicht gegeben. Nicht weil sie so sensationell war, sondern weil die Umstände, die diese Rede erzwangen, die Rede selbst in ein so unerhörtes Recht setzten. Jeder weiß mittlerweile, daß es so nicht weitergeht. Aber wenn der Bundespräsident in einer Ansprache an das Deutsche Volk sagt, daß es so nicht weitergeht und damit begründet, warum er gezwungen ist, den Deutschen Bundestag aufzulösen, dann ist eine historische Zäsur meßbar, die weder mit Carstens noch mit Heinemann auch nur im entferntesten zu vergleichen ist.

Präambel zu seiner Entscheidung

Der Bundespräsident hat nämlich in einer Art Präambel zu seiner Entscheidung erklärt, daß die Zukunft des deutschen Volkes auf dem Spiele steht. Er hat sodann in seiner dramatischen Aufzählung der wirtschaftspolitischen Krisensymptome unserer Gesellschaft einen biopolitischen Satz gesagt, der einen ganz harmlos anschaut und in dem doch ein Unheil mitschwingt, das sich nicht mehr mit ökonomischer und politischer Sprache allein fassen läßt: „Wir haben zuwenig Kinder, und wir werden immer älter”. So reden Dorfälteste, die das ganze aussterbende Dorf zum Krisenpalaver zusammengerufen haben, die verwehenden Bewohner Mittelerdes in Tolkiens „Herr der Ringe” reden so und jetzt auch wir: „gewaltige Aufgaben”, „unsere Kinder”, „Millionen von Menschen”, „nie dagewesene kritische Lage”, „bestehende... Ordnung ist überholt”, „weltweit scharfer Wettbewerb” und „wir werden immer älter”.

Horst Köhler hat recht. Darüber zu streiten, wäre absurd. Wenn es die seit 1990 so eifrig verlangte Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede je gegeben hat, dann waren es die ersten acht Sätze seiner Ansprache. Carstens hatte gesagt: „Entscheidungen von großer Tragweite stehen bevor”. Köhler legt dem Wähler in einer selten emphatischen Weise die Zukunft der alternden Gesellschaft in die Hand.

Wir werden immer älter

Die Tatsache, daß wir als Einzelne immer älter werden und daß unsere Gesellschaft als Ganzes immer schneller altert, hat Horst Köhler an die gleiche Stelle gesetzt wie die Globalisierung oder die epochale Staatsverschuldung. Wer nicht erkennt, daß der demographische Wandel bereits alle anderen gewaltigen Probleme induziert, und wer nicht erkennt, daß wir kein Problem haben, sondern als alternde Menschen in dieser Gesellschaft für die nächsten Jahrzehnte ein Problem sind, der verkennt die existentielle Bedrohung, die ihm selbst und dieser Gesellschaft bevorsteht.

Noch spricht Horst Köhler ein Wahlvolk an, das im Namen der Kinder zu handeln bereit sein könnte. Was aber, wenn - wie in Deutschland in einigen Jahren der Fall - mehr als die Hälfte der Älteren gar keine Enkel mehr haben? Denken sie dann noch an eine Zukunft, die nicht mehr ihre und die ihrer Nachkommen ist? Eine alternde Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die zu verlieren hat; eine junge Gesellschaft ist eine, die nur zu gewinnen hat. Schon jetzt zeigt sich, daß es gerade die alternden Kohorten sind, die sich der neuen Linkspartei und ihren Versprechen zuwenden. Diejenigen, die noch etwas zu gewinnen haben, werden immer weniger.

Auf Kosten der Jugend

Unsere Städte und Bundesländer und unser Land verändern im Augenblick so massiv wie noch nie in Friedenszeiten ihre demographische Zusammensetzung. Die wenigen Kinder auf unseren Schulen werden schlecht ausgebildet sein, und die wenigen der wenigen Guten werden sich mit Abwanderungsgedanken tragen. Wer die demographisch erzeugten Probleme mildern will, muß zwangsläufig gegen heute mächtige Wählerschichten Politik machen. Entwickelt es sich in Deutschland so, wie in manchen ebenfalls schnell alternden Teilen der Welt, dann werden bald Wähler immer dezidierter auf Kosten der Jugend, auf Kosten von Schulen und Ausbildung ihre Wahlentscheidungen treffen: mehr Straßenlaternen, wie in Florida, finanziert durch weniger Lehrer.

Horst Köhler hat die Alterung unserer Gesellschaft als Teil einer Staats- und Gesellschaftskrise beschrieben. Gut möglich, daß die Kinder, von denen er spricht, eines Tages aus diesem Text ihre Anklageschrift gegen uns fabrizieren: Ihr wußtet, werden sie sagen, seit jenem 21. Juli 2005, was auf dem Spiele stand. Und ihr hattet es in der Hand. Fraglich, ob das Staatsoberhaupt daran dachte. Aber ein Ultimatum für die Deutschen ist sein Rede gewiß.

http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~EE78DB6F0499A4C999318C24380010E04~ATpl~Ecommon~Scontent.html

select
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Der deutsche Immobilienmarkt liegt seit 15 Jahren "am Boden" (im Durchschnitt). Im Einkauf liegt bekanntlich der Gewinn. Wie schon einmal angesprochen, ist aber auch besonders für "Ausländer" Euroland/DE ein interessanter Investitionsmarkt. Hier kommt auch die Währungssituation stützend hinzu.

Gruß select

"26.07.2005 11:25:00

Vivacon schließt Kooperation mit staatlichem US-Pensionsfonds

Der Vorstand der Vivacon AG (ISIN DE0006048911/ WKN 604891) hat eine Kooperation mit einem staatlichen Pensionsfonds aus Nordamerika zur Akquisition, Co-Investition und zum Management von Wohnimmobilienbeständen in Deutschland unterzeichnet. Dies gab der im SDAX notierte Immobilienkonzern am Dienstag bekannt.

Vivacon wird demnach unter der Leitung eines gleichberechtigt besetzten Investment-Boards geeignete Immobilienportfolios prüfen, erwerben, bewirtschaften und weiterveräußern. Dabei wird das Unternehmen in jedem Einzelportfolio mit einem Minderheitsanteil investiert sein. Vivacon sichert sich im Zuge der Partnerschaft durch laufende Managementgebühren auf das angelegte Kapital sowie eine überproportionale Beteiligung an den späteren Veräußerungsgewinnen zwei wichtige neue Ertragsquellen.

Insgesamt steht für die nächsten zwei bis drei Jahre ein Investitionsvolumen von zunächst weit über 1 Mrd. Euro bereit. Der Name des Pensionsfonds wird auf Wunsch des nordamerikanischen Partners nicht genannt.

Die Vivacon-Aktie notiert derzeit im Xetra-Handel bei 16,57 Euro (+5,88 Prozent).
Quelle: FINANZEN.NET"

Richard Ebert
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ZDF startet Serie Wo steht Deutschland? mit einem Film über das Paragraphendickicht – BVMW-Wirtschaftssenator Michael Müller:

Bürokratiedschungel darf nicht nur mit der Nagelschere gestutzt werden

Bonn/Mainz – Nicht alle stöhnen über die Bürokratie. Einige warten sehnsüchtig auf die neuen Gesetze, Verordnungen und Vorschriften. Einer davon heißt Andreas Herberger und betreibt den Online-Dienst „Recht für Deutschland“. Herberger ist ein Bürokratie-Profiteur, denn über seinen Dienst stellt er neue Gesetzestexte ins Internet – zum kostenpflichtigen Download. 660.000 Seiten wurden bisher digitalisiert. Dies ist nur ein Beispiel aus dem ersten Film der neuen ZDF-Reihe http://www.zdf.de „Wo steht Deutschland?“, die jetzt mit einem Beitrag über das deutsche Paragraphendickicht startet. Die Bürokratieproduktion von Europäischer Union, Bund und Ländern kann sich sehen lassen: Seit Herberger seinen „Profit aus Paragraphen“ zieht, haben seine Mitarbeiter jeden Tag rund 100 Blatt gescannt; das macht etwa 198 Kilometer, würde man die Gesetzesseiten aneinander reihen.

Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) wollte vor drei Jahren die Axt an die Wurzel der Bürokratie legen und alle unnötigen Vorschriften abbauen. Dadurch sollte die Wirtschaft entfesselt werden. Der Präsident des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft (BVMW) http://www.bvmwonline.de forderte bereits damals einen „Bürokratie-TÜV“, da es nicht sein könne, dass ein Kleinbetrieb fast 50.000 Vorschriften zu beachten habe und der Mittelstand 84 Prozent der jährlichen 46 Milliarden Euro Bürokratiekosten zahlen müsse. Ein Gesetz für Bürokratieabbau ist jetzt fertig. Es sieht punktuelle Erleichterungen beim Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz, beim Wasserhaushaltsgesetz sowie bei ein paar weiteren Gesetzen bis hin zu Verbesserungen bei der Druckluftverordnung sowie der Wein-Überwachungsverordnung vor. Doch trotz der kleinen Schritte: Der große Durchbruch blieb bisher aus.

Nach Ansicht des Potsdamer Verwaltungs-Wissenschaftlers Werner Jann tragen nicht nur die Verwaltungen in den Kommunen, in den Ländern und im Bund Verantwortung für diese Situation. „Deutschland hat die Bürokratie, die es verdient, und die es haben will“, sagte Jann gegenüber dem ZDF. Die Masse an bürokratischen Vorschriften hänge damit zusammen, dass die Deutschen am liebsten alles geregelt und Einzelfachgerechtigkeit hätten. Bürokratie werde dann zum großen Problem, wenn verschiedene Bürokratien zusammenarbeiten müssten. Wenn es zum Beispiel um die Gründung eines Betriebes gehe, müssten eventuell das Bau-, Umwelt-, Wasser-, Arbeits- und Sozialrecht berücksichtigt werden. Die Deutschen könnten nicht gleichzeitig unbürokratisches und flexibles Verhalten und absolute Einzelfallgerechtigkeit erwarten.

Doch es gebe auch strukturelle Gründe für die Bürokratie. So arbeiteten in Ministerien und Verwaltungen fast ausschließlich Juristen, die zwar alles auf seine Rechtmäßigkeit abklopfen, aber langfristige Folgen von Beschlüssen und die ökonomischen Auswirkungen ihrer Bürokratieproduktion oft außer Acht lassen. Auf den Bürokratieabbau passe das Bild des Gärtners und nicht das des Architekten. Es gehe nicht darum, das Haus total zu renovieren oder ein neues zu errichten. Es gehe eher darum, wie ein Gärtner im Garten die besonders üppig gewachsenen Pflanzen zurechtzuschneiden und Wildwuchs zu beseitigen.

„Ich habe den Eindruck, dass diese Bürokratie-Gärtner höchstens mit der Nagelschere zu Werke gehen oder sogar noch zum Dünger greifen. 2004 wurden zwar 35 Gesetze und 129 Verordnungen aufgehoben. Dafür kam aber gleich 195 Gesetze und 473 Verordnungen neu hinzu. Ich weigere mich, Bürokratie quasi als gottgegeben zu betrachten. Die Kräfte der Wirtschaft können nur entfesselt werden, wenn die Unternehmer mehr Freiheit bekommen. Ist es denn eine logische Folge der Gesetzesflut, wenn sich das Ordnungsamt sozusagen automatisch als King im Ring aufführt? Unsere Gesellschaft braucht mehr ökonomisches und weniger formaljuristisches Denken“, meint Michael Müller, Geschäftsführer der Neusser a & o-Gruppe http://www.ao-services.de und Wirtschaftssenator im Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) http://www.bvmwonline.de. Andreas Herberger freut sich auf jeden Fall schon auf Neuwahlen, denn im nächsten Frühjahr rechnet er dann wieder mit einer neuen Verordnungsflut.

-> ZDF am Dienstag 26.07.05 um 22.45 bis 23.15 Uhr

metatrader
Mitglied seit 10 Jahre 9 Monate

Thomas Fricke: Stagnation erster Klasse

http://www.ftd.de/me/cl/19742.html

Die Schweiz hat niedrige Steuern, einen lockeren Kündigungsschutz und grundreformierte Sozialsysteme - und wächst noch schwächer als wir. Daraus könnte das eifrig reformierende Deutschland einiges lernen.

Schwache Schweizer
Im Grunde haben die Schweizer alles richtig gemacht, zumindest nach klassischer Lehre. Nirgends gibt es so flexible Arbeitsmärkte, umgängliche Steuerregeln und grundreformierte Sozialsysteme - all das, was Professoren in Deutschland bitterlich vermissen. Nach Adam Smith und Paul Kirchhof müssten die Schweizer sozusagen durchboomen.

Die Sache hat nur einen klitzekleinen Haken: Die Schweiz boomt nicht. Im Gegenteil. Kaum einem Land der Welt mangelt es seit 15 Jahren so sehr an Dynamik. Und: Die Auflösung des Rätsels könnte für die Deutschen gerade jetzt sehr lehrreich sein. Denn den alpinen Reformlaureaten scheint seit Jahren vor allem eins dazwischenzukommen: dass die eigene Währung hochschnellt - ein Problem, das noch ein anderes Volk kennt: das stagnierende Deutschland. Kein Zufall.

Mehr Zeit im Büro

In der Schweiz wird ganz legal bis zu 50 Stunden die Woche gearbeitet, dafür kaum gestreikt und relativ wenig Zeit mit so Dingen wie Urlaub verbracht. Im Jahr kommen die Schweizer auf gut 1800 Stunden Arbeit und verbringen damit 200 Stunden weniger als wir vorm Fernseher oder sonstwo. Traumhaft.

Der Arbeitsmarkt kann das Problem nach orthodoxer Lehre nicht wirklich sein. In der Schweiz gilt kaum Kündigungsschutz, laut OECD sind Jobs nicht einmal halb so reguliert wie in Deutschland. Selbst der Staat gibt sich modern bescheiden. Die öffentlichen Ausgaben erreichen nur ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts (BIP) - mageres US-Niveau weit unter der deutschen Quote von 47 Prozent. Entsprechendes gilt für Steuern und Abgaben, Spitzen- wie Konzernsteuern liegen niedrig. Das Staatsdefizit dümpelt bei einem Prozent statt Eichelscher 3,5 Prozent des BIP.

Reformiert haben die Schweizer ihr Gesundheitssystem. Seitdem gilt die gern von Reformpäpsten empfohlene Kopfpauschale. Die Rentenvorsorge fußt brav auf drei Säulen - samt geförderter Privatvorsorge. Wunderbar.

Nach allen Standardkriterien müsste die Schweiz also das China Europas sein, mit Wachstum von, sagen wir, neun Prozent. Die Deutsche Bank rechnet für 2005 aber nur mit 0,8 Prozent, dagegen wirken die Deutschen fast dynamisch. Seit 1991 expandierten die Schweizer im Schnitt jährlich um 1,1, die Deutschen um 1,2 Prozent. Die Schweizer Arbeitslosenquote verdreifachte sich von 1,5 auf nun 4,5 Prozent der Erwerbspersonen.

Nun könnte eine Erklärung sein, dass es sogar in der Schweiz Dinge gibt, die noch nicht verändert wurden. Irgendwas finden Ökonomen immer. Es fehle oft an Konkurrenz, sagt der Schweizer Chef des Hamburger HWWI-Instituts, Thomas Straubhaar. Die Schweizer leisteten sich zum Beispiel Postboten, die Briefe in die letzten Alpenwinkel trügen. Derlei könnte erklären, warum das Land in vielem so teuer und wenig dynamisch sei.

Ob das reicht, um 15 Jahre Wachstumskrise zu erklären, ist fraglich. Zwar seien die Preise unbestreitbar hoch, so Matthias Lutz von der Universität St. Gallen. Nur könne das kaum an durchweg mangelndem Wettbewerb liegen. Sonst müssten die Firmen hohe (Monopol-)Gewinne einfahren, was nicht der Fall sei. Unwahrscheinlich zudem, dass hochliberale Experten den Konkurrenzmangel übersahen, als sie die Schweiz stets ganz oben in ihre Freiheits- und Wettbewerbsrankings stellten.

Der Grund für die hohen Preise dürfte ein anderer sein. Der Schweizer Franken hat seit 1970 gigantische 265 Prozent aufgewertet, während Briten, Franzosen und Amerikaner bestenfalls mäßige Verteuerungen ihrer Währung verkraften mussten. Folge Nummer eins: Schweizer Exportwaren haben sich seitdem um mehr als 80 Prozent stärker verteuert als alle anderen OECD-Ausfuhren. Folge zwei: Die Aufwertung ließ via Umrechnung die Löhne und Preise im internationalen Vergleich immer höher ausfallen. Folge drei: Die Exporte stürzten rund um den Globus ab.

Seit 1980 bleiben die weltweiten Verkäufe der Schweizer um fast 40 Prozent hinter der Nachfragedynamik wichtiger Absatzmärkte zurück - ein atemberaubender Rückfall. Der Schweizer Weltmarktanteil sackte seit 1990 von 2,5 auf 1,5 Prozent. Das dürfte nur bedingt mit Postboten zu tun haben.

Teure Währung als transalpines Problem

Für die Deutschen ergibt das ein paar erschreckende Parallelen. Im Schnitt haben Mark und dann Euro seit 1970 um nominal 220 Prozent aufgewertet - eine ähnlich krasse Verteuerung von "Made in Germany", auf die Firmen nur etwas anders reagierten. Sie versuchten durch immer neue Kostenkürzungen gegenzusteuern, ließen die Exportpreise damit nur um 15 Prozent stärker steigen als die Konkurrenz und verloren so nur relativ bescheidende zwölf Prozent an "Export Performance" - mit der Folge, dass die Arbeitslosigkeit entsprechend stärker stieg als in der Schweiz.

Deutsche und Schweizer ähneln sich in der Krise weit stärker, als es die Lieblingslisten der Standortpäpste vermuten lassen. Beide sind in gewisser Art Opfer des eigenen Erfolgs. Gerade weil sie als Hort der Stabilität gelten, hat sich der Run auf die Währung verselbstständigt. Die Kurse stiegen und stiegen - bis heute.

Mit diesem gemeinsamen Handicap lässt sich erklären, warum die Wirtschaft beiderseits des Bodensees seit 15 Jahren auf so erschreckend gleichmäßige Weise lahmt - obwohl die Schweizer bei Ökonomen als Mustereinheit und die Deutschen eher als Schmuddelgruppe gelten. Es wird Zeit, dass wir uns mit Wichtigerem beschäftigen als mit Bierdeckelsteuern, längeren Arbeitszeiten und Kostenabbau. Könnte unter den heutigen Währungsverhältnissen sein, dass das gar kein Wachstum bringt. Wie in der Schweiz.

Thomas Fricke ist Chefökonom der FTD. Er schreibt jeden Freitag an dieser Stelle in der Zeitung.

Kobban
Mitglied seit 10 Jahre 9 Monate

Vielleicht liegts am Wertewirrwarr

Kalamitätenlisten helfen uns nicht weiter. Unsere Utopien erzeugen ja ganz automatisch unsere Unzufriedenheiten.

Die Utopien des Wohlfahrtsstaates bestehen in der Vorstellung, die ständige Umbesserung der Verhältnisse führt in eine bessere Zukunft.

Die politischen Machbarkeiten müssten erst einmal richtig durchschaut werden. Sie treten bloß als Werte auf - wie eingedickte Bekenntnisse zu dem, was man vorzuziehen hat. Geeignet nur für Wahlen.

Zuerst Freiheit - dann Sicherheit?
Zuerst Sicherheit - dann soziale Gerechtigkeit?
Zuerst Bildung - dann weniger Verschuldung?
Zuerst Umwelt - dann Wachstum?
Zurst Gesundheit - dann ...??
Zuerst weniger Arbeitslose - dann...??
Zuerst Bürokratieabbau - dann weniger Lohnnebenkosten?
Oder zuerst weniger Kündigungsschutz - dann ...??
Oder zuerst mal die Steuervereinfachung - dann ...??
Oder zuerst die Binnennachfrage beleben - dann ...??
Oder zuerst Verschuldung unter 3% - dann ...??
.................
liesse sich weiter fortsetzen

Erst wenn man diesen Wertewirrwarr mal voll durchblickt hat, erkennt man, dass das Vorzuziehende gar nicht vorzuziehen ist, weils jeweils auf Kosten anderer Werte gehen würde.

Wie dürftig und ohnmächtig ist doch das Argumentieren mit Werten.

Der Geist hat sie verlassen!

Eine richtige Reihenfolge unserer "heiligen" Grundwerte ist nicht in Sicht und könnte sowieso nicht zugleich für Stabilität und Reformgelingen sorgen.

Durchwursteln bleibt Durchwursteln.
Mal wurstel das eine - mal das andere Land besser. Vielleicht sind wir ja auch mal wieder dran.

http://www.wohlfahrtsstaat.de/

Gruss Kobban

.

fluggerät
Mitglied seit 10 Jahre 9 Monate

Frage an Radio Eriwan: "Stimmt es, daß der Kapitalismus einem D-Zug gleicht, der dem Abgrund entgegenrast?"

Antwort: "Im Prinzip ja."

"Und wieso müssen wir ihn dann unbedingt noch überholen?"

select
Mitglied seit 10 Jahre 9 Monate

@Freunde

Mit dem ganzen gejammere können wir keine Chancen erreichen. Es gibt viele Verwerfungen und Ungerechtigkeiten, aber es zählt die "Summe". Und wenn wir unseren Lebensstandard reduzieren müssen, kann das langfristig positve Signale erzeugen. Bitte nicht mit dem "Aber" und "Die Anderen" kommen, genau so wird eben Stillstand erzeugt.

Gruß Thomas

Kobban
Mitglied seit 10 Jahre 9 Monate

@select (das Arbeitsbienchen ist also wieder da)

Bereits 1769 schrieb Johann Gottfried Herder in seinem "Ersten kritischen Wäldchen":

"Die Kritik beginnt sich selber zu kritisieren, unsrer jetzigen kritischen Pestilenz den Kampf anzusagen."

Weit scheint diese Kritik zweiter Ordnung in den 236 Jahren ja nicht gekommen zu sein. Eher im Gegenteil.

Ich glaube, die Amis und andere Wachstumler klagen viel weniger.

Jedenfall scheint sogar die deutsche Antwort auf die Grußformel "Wie gehts?"
mit: "Ich kann nicht klagen" einmalig auf der Welt zu sein.

"Ich kann nicht klagen" - d.h. doch ohne klagen, würde uns was im Leben fehlen.

Inzwischen sind nun die Gründe zum Klagen aber sehr ernste Gründe geworden. Und um da wieder herauszukommen, bräuchten wir einen Hypersuperoptimismus. Woher soll der denn herkommen?

Gruss Kobban

wuelle
Mitglied seit 10 Jahre 9 Monate

@select

„wenn wir unseren Lebensstandard reduzieren müssen, kann das langfristig positive Signale erzeugen“

Mit diesem Thema befasst sich Meinhard Miegel, Ökonom und Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn. Er vertritt in seinem neuen Buch „Epochenwende“ die These, daß die Ära westlicher Dominanz über den Erdball zu Ende geht.

Überall seien in den westlichen Gesellschaften Ermüdungserscheinungen zu beobachten: in ihrem demographischen Verhalten, ihrem Lebensstil, der Art, wie sie die Familie pflegen, der Art ihres versorgungsstaatlichen Denkens.

Noch versuche die Politik uns einzureden, der schwindende Vorsprung gegenüber Ländern wie China und Indien könnte bald wieder aufgeholt werden. Tatsächlich aber gebe es für die Bevölkerung in Ländern wie den Vereinigten Staaten, Japan oder Deutschland nur einen Ausweg: die Einsicht, in Zukunft ein stärker verzichtsbereites Leben führen zu müssen.

Zum globalen Wettbewerb schreibt er:

„Was bedeutet das für die Arbeitsteilung, insbesondere die internationale, die globale? Zunächst einmal bedeutet es, daß diese radikal neu, radikal anders definiert werden muß. Die Frage "Was kannst du besser, was kann ich besser, und was lohnt sich am Ende des Tages auszutauschen?" ist dabei, ihren Sinn zu verlieren. Im 21.Jahrhundert wird sie ersetzt durch die Frage: "Wer von uns beiden ist bereit, den niedrigeren Lebensstandard hinzunehmen, da keiner von uns etwas besser kann als der andere?" Wer hier "Ich!" ruft, der bekommt den Zuschlag, der hat im internationalen Wettbewerb die Nase vorn. Der andere hat das Nachsehen.

Hier sind die aufstrebenden Völker dabei, die Erwerbsbevölkerungen der frühindustrialisierten Länder in große Verlegenheit zu stürzen. Zwar sind sie nicht innovativer, effektiver oder produktiver als diese. Aber geschickt verwickeln sie den Westen dort in Auseinandersetzungen, wo sie ihm turmhoch überlegen sind: auf dem Feld von Genügsamkeit, Bescheidenheit, Zurückhaltung und Selbstbeschränkung. Auf diesem Feld hat der Westen keine Erfahrung mehr. Die Disziplinen, die hier gefragt sind, hat er seit Generationen nicht mehr geübt. Das macht ihn hilflos.

Die Mühsal des Aufstiegs liegt hinter ihnen, allerdings auch seine Faszination. Wehmütig blicken sie zurück auf das Vergangene. Der Gedanke an das Kommende erfüllt sie eher mit Unbehagen. Viele fühlen sich der Zukunft nicht gewachsen. Deshalb treten sie auf der Stelle. Zänkisch und verdrießlich, sträuben sie sich gegen jede Veränderung. Kann nicht alles bleiben, wie es ist? Sie erleben kaum noch, wie die Sonne aufgeht. Sie geht nur jeden Abend unter.“

Man beachte die Häufigkeit der Diskussionen wie „Deutschland am Abgrund“ etc.

Im Zusammenhang mit Steuern und Sozialem finde ich Folgendes lesenswert:

„ … Ob nämlich ein Hase gejagt wird, hängt nicht davon ab, ob irgend jemand Appetit auf Hasenbraten hat, sondern davon, ob jemand Appetit hat, der einen Hasen zu jagen vermag. Jemanden dazu zu bringen, zugunsten eines anderen zu jagen, ist eine ganz besondere Leistung, zu der nur Menschen fähig sind.

Die menschliche Gesellschaft steht immer wieder vor der Aufgabe, die Stärkeren, die Fähigeren zu bewegen, für die Schwächeren, die Unfähigeren in kleinerem oder größerem Maße mitzusorgen. Selbstverständlich ist das keineswegs.

Sollte es richtig sein - und viele Anzeichen sprechen dafür -, daß die Zahl der Stärkeren wächst, die sich zurücklehnen und sagen "Wir haben genug, uns reicht es!", obwohl die Bedürfnisse der Schwächeren noch längst nicht befriedigt sind, dann hat die Gesellschaft ein Problem. Entweder sie nimmt hin, daß die Stärkeren satt und die Schwächern hungrig sind - ein global verbreitetes Modell -, oder sie schafft Anreize, die die Stärkeren veranlassen, sich der Schwächeren anzunehmen.“

Das Buch, auf den ersten Blick unpolitisch, bietet eine Menge Stoff zum Nachdenken.

select
Mitglied seit 10 Jahre 9 Monate

@wuelle

Danke für Deinen Beitrag:-) Natürlich kann ich auch meine Blickrichtung ändern. Ich gehe ja langfristig (20-30 Jahren) nicht von Traum - oder Boomzeiten aus. Das ist aber die eine Seite. Es geht um die Gegenwart. Wenn ich langfristig Probleme sehe/vermute, kann ich nicht ab heute den Kopf in den Sand stecken. Außerdem wissen wir nicht, ob alles in dieser Form eintreten wird. Ist ja wie an der Börse:-) Und die nächsten 10 Jahre werden wir nicht zu einem Entwicklungsland mutieren. Warum diese Zeit nicht nutzen?

"Das Buch, auf den ersten Blick unpolitisch, bietet eine Menge Stoff zum Nachdenken."

Die Zeit, die Zeit, die liebe Zeit:-)

Sonnige Grüße, Thomas

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